Von Gastautor Josef Hueber
“Geschichte ist für die meisten Menschen das, was gestern in der Zeitung stand.” (Neil Postman)
“Kann man aus der Geschichte lernen?” fragt Leonid Luks, Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte, in seiner Kolumne “Über den Sinn der Vergleiche mit der Hitlerzeit.” (http://bit.ly/2DNp3Dl) Er bejaht diese Frage und sieht sich im Einklang mit dem britischen Historiker L.B.Namier. Für diesen ist eine Lernmöglichkeit aber nur gegeben, wenn “die vergangenen Erfahrungen nicht mechanisch auf völlig neue Situationen” angewandt werden. Napoleons Feldzug nach Russland wird sich so nicht wiederholen.
“Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus” – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.”
So schreibt Ralph Giordano (1923 – 2014), der große Journalist, Zeitzeuge, Filmemacher, Essayist und Romanautor in seinem Buch “Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein”, das 1987 erstmals erschien und nach dem Sturz der Mauer eine Neuauflage erfuhr, erweitert um ein Kapitel über die Auseinandersetzung der DDR mit dem Nationalsozialismus.
In einer Gedenksendung zu seinem Tod definiert Giordano in einem Interview die zweite Schuld genauer. Sie ist, “tief institutionalisiert und materialisiert”, sie ist der “große(n) Frieden mit den Tätern”, das “größte Wiedereingliederungswerk für Täter (…), das es je gegeben hat.” Die Anklage: “Die Täter sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle, letztlich nicht nur straffrei davon gekommen, sondern sie konnten ihre Karriere noch unbeschadet fortsetzen.” (http://bit.ly/2BC58kT)
Ist es historisch legitim, so ist zu fragen, eine Parallele der Nicht – Aufarbeitung der Nazizeit nach 1945 in der unbewältigten Aufarbeitung der DDR – Geschichte nach 1989 zu sehen? Immer im Bewusstsein der eingangs berechtigterweise gestellten Forderung, nicht simplizistisch Parallelen zwischen historisch verschiedenen Epochen und Gegebenheiten herzustellen?
Grundsätzliches: Die Diktatur der kommunistischen DDR ist nicht gleichzusetzen mit der Diktatur der Nationalsozialisten. Die Marionetten Moskaus haben keinen Holocaust in ihrem Portfolio. Sie haben keinen Angriffskrieg mit der Pseudo-Rechtfertigung “zurückgeschossen” geführt. Sie haben zwar an der brutalen Unterdrückung von Freiheitsbewegungen in Prag (freiwillig?) mitgewirkt, sie haben Dissidenten ins Gefängnis geworfen, sie haben gefoltert, Menschenrechte grundsätzlich missachtet, und sie tragen Verantwortung für staatsbefohlene Exekutionen von Menschen an der Mauer auf der Flucht in die Freiheit. Aber die Gleichung Drittes Reich = DDR wäre Geschichtsklitterung. Letzteres hat die Geschichtsschreibung der DDR in ihrer Distanzierung zum Hitlerreich ausreichend selbst geleistet.
Also: Von Ulbricht bis Honecker waren die Subalternen Moskaus keine Hitlers. Diese Feststellung ist keine, wie heutzutage häufig üblich, Verharmlosung der DDR posthum, sondern nur gesagt, um der geschichtlichen Wahrheit gerecht zu werden.
Eine Reihe von Fragen ist zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu beantworten. Nur dann lässt sich entscheiden, ob man von einer “dritten Schuld” sprechen kann.
1. Inwieweit wurde nach 1989 in der Bundesrepublik das Bemühen um die Aufarbeitung der DDR – Geschichte erkennbar und entschlossen durchgeführt?
2. Gibt es Indizien dafür, dass belastende Tatsachen der DDR – Geschichte im Sinne der These Giordanos verdrängt wurden und dazu führten, dass ‘Karrieren unbeschadet fortgesetzt’ werden konnten? Welche Rolle spielten dabei die politischen Eliten? Wer sind/waren die Täter, die so der Aufarbeitung und Sanktionierung der DDR -Vergangenheit entkamen?
3. Welche Rolle spielten bei der Aufarbeitung der DDR – Vergangenheit die Medien? Wurden sie ihrer investigativen Pflicht gerecht?
Erst nach der Klärung dieser Fragen lässt sich entscheiden, ob die in der Bundesrepublik auf den politisch, juristisch und medial relevanten Machtstellen Verantwortlichen eine Nachlässigkeit den Tätern der DDR gegenüber zeigten, die der Nachlässigkeit in der Verfolgung Schuldiger des Dritten Reiches ähnlich oder ebenbürtig war.
Dies ist eine historische Aufgabe größeren Ausmaßes. Zeitzeugen als Garanten verlässlicher Quellenauskunft gibt es noch ausreichend. Dokumente, sollten sie im Nachklang von 1989 nicht bewusst zerstört worden sein, vermutlich auch.
Wenn sich die politische und wissenschaftliche Elite der Bundesrepublik nicht bemüßigt fühlt, aus Bequemlichkeit oder Indifferenz, der Beantwortung der genannten Fragen nachzugehen, rechtfertigen sie die Vermutung, dass wir es tatsächlich mit einer dritten Schuld zu tun haben, weil keine Lehre aus der zweiten Schuld gezogen wurde.