Der geniale Rodin und die ebenbürtige Claudel

Veröffentlicht am

Wer nach Paris kommt, sollte unbedingt einen Besuch im Musée Rodin einplanen. Sein Haus, eher ein kleiner Palast und Garten, sind zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen, weil sie vom Geist Auguste Rodins durchdrungen sind. Wie kann ein einzelner Mensch so viele Werke schaffen, wie hier zu sehen sind, im Wissen, dass hunderte andere in der ganzen Welt verteilt sind?

Stefan Zweig beschrieb im Jahr vor seinem Tod einen Besuch bei Rodin, als er ein junger Mann war. Er war zum Mittagessen geladen und wurde am Ende des Mahls gefragt, ob er die neueste Arbeit im Atelier sehen wolle. Zweig wollte. An der Ateliertür zog Rodin automatisch seinen Arbeitskittel an und führte Zweig zu einer verhüllten Frauenstatue. Rodin zog das Tuch weg und sagte versonnen, die Figur sei perfekt. Als er mit seinen Händen über den Stein strich, bemerkte er doch einen unsichtbaren Fehler und begann, ihn zu beheben. Er vergaß den hinter ihm stehenden Gast – erst als er nach zwei Stunden mit seinem Werk zufrieden war, erinnerte er sich an Zweig und bat ihn um Entschuldigung. Zweig hatte in diesen zwei Stunden begriffen, was Größe ausmacht: Die absolute Hingabe an das Werk. Rodin soll bis zu 16 Stunden am Tag gearbeitet haben. Wann er Zeit für alles andere, zum Beispiel seine vielen Geliebten, hatte ist ein Rätsel.

Eine dieser Geliebten war Camille Claudel. Als die junge Frau 1880 mit Anfang zwanzig in sein Atelier eintrat, war sie bereits eine fertige Bildhauerin. Sie hatte u. a. schon mit fünfzehn Jahren eine Büste von Bismarck modelliert, die weithin Beachtung fand. Rodin war nicht nur von ihrer Schönheit, sondern auch von ihrem Talent beeindruckt. Ihre turbulente Beziehung währte zehn Jahre, bis sich Camille von ihm trennte, weil er sich nicht für eine Heirat entscheiden konnte. Sie hat diese Trennung nie verkraftet und die Kontrolle über ihr Leben verloren. Schließlich wurde sie von ihrem Bruder und ihrer Mutter in eine Irrenanstalt gesteckt, aus der sie dreißig Jahre bis zu ihrem Tod nicht mehr entkam, weil der Bruder den Ärzten, die Camille als geheilt entlassen wollten, widersprach. Ihr tragisches Schicksal hat lange Zeit den Blick auf ihr Werk überschattet. Die permanente Ausstellung im Musée Rodin weist ihr einen gebührenden Platz zu. Den Grundstein dafür hat Rodin gelegt, der, als er 1916 das Haus und alle seine Werke für ein Museum stiftete, auch Werke von Camille einbezog.

Schon im vierten Raum wird sichtbar, wie sehr Camille den Meister inspirierte. Rodin schuf drei Porträts von ihr: Eine Maske, „Camille mit kurzem Haar“, „Camille mit Hut“. Letztere Büste wurde zu ihrem offiziellen Porträt. Aber auch in seinen Werken spielt seine Leidenschaft für Camille eine Rolle. Davon zeugen die Skulpturen „Ewiger Frühling“, „Amor fugit“ und „Der Mann und seine Gedanken“.

Als Camille zu ihm kam, war Rodin ein viel gefragter Künstler, der junge Bildhauer als Helfer anstellte. Sie wurde an seinen Werken beteiligt, wie an seinem Lebenswerk „Tor zur Hölle“ und an den berühmten „Bürger von Calais“, die im Garten zu sehen sind. Auch nachdem sie ihn verließ, beschäftigte sich Rodin mit Camille. Dabei benutzte er die drei Porträts, die er von ihr geschaffen hatte. In „Aurora“ war es „Camille mit Hut“. Er spielte mit dem Kontrast, den das liebliche Gesicht aus poliertem Marmor mit dem kaum bearbeiteten Block, auf dem es steht, bildet, um dessen Ausstrahlung zu erhöhen. Tatsächlich hat man den Eindruck, dass der Kopf von der Sonne beschienen wird. In „Abschied“ kombinierte Rodin „Camille mit kurzem Haar“ mit zwei Händen, um die Verletzlichkeit des Modells zu zeigen. Als die Skulptur in Marmor ausgearbeitet wurde, nannte er sie in „Genesung“ um.

Claudel ist ein eigener Raum in der Ausstellung gewidmet. Ergänzt wird Rodins Sammlung von vier Werken, die Claudels Bruder Paul 1952 dem Museum gestiftet hat. Hier stehen Rodin und Claudel mit ihren Werken Seite an Seite. Das offenbart ihre tiefe Verbundenheit und gegenseitige Beeinflussung.

Claudel porträtierte Rodin nur einmal. Die Büste ist so gelungen, dass Rodin sie in jede seiner Ausstellungen einfügte und zu seinem offiziellen Porträt machte. Claudel hatte nicht nur die physische Ähnlichkeit hineingelegt, sondern auch Rodins Psychologie. Der Ausdruck des Gesichts ist energisch und sehr ernst. Interessant ist die Gegenüberstellung der Darstellung des Mythos von Perseus und den Gorgonen (Schreckensgestalten, deren Blicke den Betrachter zu Stein erstarren lassen). Daneben gibt es eine sehr persönliche Interpretation über das Vergehen der Zeit. Bei Claudel zeigt die Clotho durch ihren verzerrten Realismus die Kraft, die der Verwitterung des Fleisches widerstehen kann.

 

Faszinierend sind vor allem die Stücke, die Claudels ganz eigene Handschrift zeigen: „Das Zeitalter der Reife“ verbindet eine Allegorie der flüchtigen Natur mit der Erzählung ihrer Ablösung von Rodin. Die stehende Frau ist ein Symbol für Alter und Tod. Der Mann, um den die zwei Frauen streiten, wird von ihr genommen. Er verlässt die jüngere Frau, die ihn sichtlich zerrüttet anfleht. „Der Walzer“ wurde und wird von den Kritikern für seine kühne Komposition gelobt und wurde sofort zum Verkaufserfolg. Die beiden Liebenden halten sich in einer leidenschaftlichen Umarmung umfangen, während der Schwung ihrer Körper und ihrer Kleidung den Tanz in größter Harmonie abbildet. „Die Welle“ ist der Höhepunkt von Claudels Schaffen. Sie zeigt sich nach ihrem Abwenden von Rodin als Meisterin mit einer eigenen Handschrift. In diesem Stück spielt sie mit dem Kontrast zwischen Material und den Elementen, zwischen dem harten Onyx-Marmor und dem Wasser.

Claudel ist eine zu früh Gekommene. Bildhauerei galt als männliche Domäne, sie entsprach mit ihrem Tun nicht den Erwartungen ihrer Zeit an eine Frau. Ihre Wiederentdeckung ist ein Geschenk für die Welt. Demnächst bekommt sie ihre erste eigene Ausstellung in den USA.



Unabhängiger Journalismus ist zeitaufwendig

Dieser Blog ist ein Ein-Frau-Unternehmen. Wenn Sie meine Arbeit unterstützen wollen, nutzen Sie dazu meine Kontoverbindung oder PayPal:
Vera Lengsfeld
IBAN: DE55 3101 0833 3114 0722 20
Bic: SCFBDE33XXX

oder per PayPal:
Vera Lengsfeld unterstützen