Heldenleben

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In Zeiten des Gratismutes und der aufgeregten Diskussion um eine alberne Armbinde, hatte ich das Bedürfnis, mich zu vergewissern, dass es eine Zeit mit wirklich ernsten, tödlichen Problemen gab. Beim Umräumen meiner Bücherschränke fiel mir Alexander Solschenizyns Bändchen „Heldenleben“ in die Hand. Ich ließ alles stehen und liegen und begann die zwei Erzählungen zu lesen.

Die erste Erzählung handelte von dem bei uns ganz unbekannten russischen Philanthropen und begeistertem Volkstümler Pawel Wassiljewitsch Ektow. Die Volkstümler waren eine Bewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, die das Los der russischen Bauern nach der Abschaffung der Leibeigenschaft erleichtern wollten. Sie propagierten die Aufteilung des Gutsbesitzerlandes an die landlosen Bauern. Deshalb waren sie anfangs begeistert von dem bolschewistischen Putsch, weil das zweite Dekret, das die Bolschewiki nach der Machtübernahme verkündeten, das Dekret über Grund und Boden war. Das Land sollte künftig denen gehören, die es bestellten. Aus der Begeisterung wurde schnell Ernüchterung, als Ektow im Bürgerkrieg miterleben musste, wie gnadenlos die Bauern ausgeplündert und bekämpft wurden. Schon 1919 begann die erste politisch verursachte Hungersnot auf dem Lande. Die bolschewistischen Beschaffungstrupps beschlagnahmten nicht nur das Saatgetreide, sondern forderten oft noch Frauen für ihre Fressgelage. In den meisten Fällen bekamen sie die Frauen, denn alles war besser, als erschossen zu werden.

Erschießungen standen auf der Tagesordnung und sei es „nur“, um ein Zeichen zu setzen. Häufig kam es vor, dass ganze Dörfer liquidiert wurden. Die leeren Häuser wurden dann niedergebrannt.
Die Volkstümler, die sich daraufhin von den Bolschewiki abwandten, teilten das Schicksal der Bauern.

Die zweite Erzählung handelt von einem Bürgerkriegsschlächter, der es später im Zweiten Weltkrieg zu Weltruhm brachte: Georgji Konstantinowitsch Schukow, dem Eroberer von Berlin. Dessen Biografie ist wirklich atemberaubend.

Mit 19 Jahren wurde „Jorka“ Schukow zur zaristischen Armee eingezogen und in den Krieg geschickt, den die Russen den „deutschen“ nannten. Er wurde mehrmals verwundet, erlitt und überstand mehrere Fleckenfieberanfälle und stieg dennoch verhältnismäßig schnell im militärischen Grad auf, weil seine Führungsfähigkeiten von Anfang an überragend waren.

Im Bürgerkrieg nach dem Oktoberputsch kämpfte Schukow auf der Seite der Roten – und zwar mit aller befohlenen Härte. Sein Vorbild war der legendäre Feldherr Tuchatschewskij mit dem aristokratischen Gesicht, den samtigen Augen und dem eisernen Herzen. Schukow hörte ihn seinen Befehl 130 verlesen, dass alle Bauern, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, der Sowjetmacht zu übergeben wären, ihre Familien verhaftet und ihr Besitz zu konfiszieren sei. Wenn nötig, solle man Giftgas einsetzen, um die „Eiterbeule aufzustechen“.

Die Familien der Banditen seien in ferne Sowjetrepubliken zu deportieren. Wer diesem Befehl nicht umgehend folgte, für den galt Befehl 178. Wer einen Banditen nicht unverzüglich meldete, galt als Komplize und würde wie die Banditen selbst behandelt werden. Tuchatschewskij hat sich sicher nicht eine Sekunde vorstellen können, dass man auch ihn eines Tages mit aller Härte behandeln würde. Er landete nach fürchterlichen Folterungen 1937 als angeblicher Agent des Imperialismus vor dem Erschießungspeleton. Mit ihm zahlreiche andere Bürgerkriegshelden.

Schukow hat vielleicht gerettet, dass er noch nicht so weit aufgestiegen war. Seine Karriere nahm erst richtig Fahrt auf, als nach Ersatz für die erschossene Armeeführung gesucht wurde.

Es stellte sich heraus, dass Schukow ein geborener Kriegstaktiker war. Seine Feuertaufe bestand er gegen die Japaner. Er warf den Angreifern eine Panzerdivision entgegen, ohne auf Artillerie und Fußtruppen zu warten. Ein Drittel der Division verglühte, aber Stalin merkte sich seinen Namen. Die erste entscheidende Großtat war, die Deutschen vor Moskau zu stoppen. Anfang Oktober 1941 hatte es für zwei Wochen so ausgesehen, als würde Moskau jeden Moment eingenommen werden. Die Evakuierung war in vollem Gang, die Zerstörung der Stadt schon geplant. Im entscheidenden Augenblick verschwand Stalin von der Bildfläche. Bis heute ist nicht klar wohin. Der große Führer tauchte erst wieder auf, als die deutsche Offensive im Schlamm steckengeblieben war. Schukow nutzte sein Prestige, um Stalin zu bewegen, Rokossowski, der 1937 der Erschießung entgangen, aber im Gulag gelandet war, in die Armeeführung zurückzuholen. Etwas später gelang es ihm, General Konew davor zu schützen, in die Stalinsche Fleischmühle geworfen zu werden.

In der zweiten Kriegshälfte war Schukow der Einzige, dem Stalin im Generalstab die Hand gab.

Später war es Stalingrad, wo Schukow die Wende herbeiführte.
Trotz seiner Erfolge war Stalin selten bereit, auf Schukow zu hören. Wenn der zum Beispiel sagte, ein Angriff könne nicht vor dem
6. Dezember ausgeführt werden, bestand Stalin auf dem 4., was zu höheren Verlusten führte. Ohnehin erkundigte sich Stalin nie nach den eigenen Verlusten, nur nach denen der Deutschen. Stalin war nie auch nur für eine Stunde an der Front. Er hatte keinerlei Erfahrung, hielt sich aber für den größten Kriegsherren.

Bei der Vorbereitung der Panzerschlacht am Kursker Bogen wartete Stalin nicht, bis Schukow seinen Plan ausgearbeitet hatte, sondern befahl zuzuschlagen, ehe die nötigen Vorbereitungen getroffen worden waren.
Die Rote Armee siegte, aber nur, weil immer wieder „frische sibirische Verbände“ in die Schlacht geworfen wurden.

So war es auch in der Schlacht um Berlin. Stalin wollte unbedingt am 1. Mai eine Siegesparade in Berlin abhalten. Deshalb musste um jeden Preis vorgegangen werden. Das kostete noch einmal mindestens 300 000, anderen Schätzungen nach einer halbe Million, Rotarmisten das Leben.

Am 9. Mai durfte Schukow noch auf einem Schimmel die Siegesparade auf dem Roten Platz anführen. Ursprünglich hatte Stalin das selbst machen wollen, fürchtete dann aber, sich wegen seiner mangelnden Reitkünste zu blamieren. Er nahm es Schukow aber übel. Deshalb wurde der erst einmal in Deutschland als Oberkommandeur der Sowjetischen Besatzungszone festgehalten. Eigentlich sollte Schukow danach im Gulag verschwinden oder Schlimmeres, aber Rokossowski und Wassiliewski, die Schukow beide aus dem Gulag geholt hatte, setzten sich für ihn ein. Er wurde nur in den Ruhestand versetzt.

Der endete, als Nikita Chruschtschow ihn nach Stalins Tod zu einer Geheimbesprechung bat. Es ging um die Beseitigung des berüchtigten Geheimdienstchefs Lawrentij Beria, den niemand sich zu verhaften traute. Schukow erledigte das mit ein paar Getreuen. Sie marschierten mitten in eine Politbürositzung, verhafteten Beria vor den schweigenden Mitgliedern, wickelten ihn in einen Teppich, damit Beria nicht seine Leibwache alarmieren konnte und transportierten ihn an einen sichern Ort. Beria wurde nach einem Geheimprozess erschossen.

Schukow rettete Chruschtschow noch einmal, als der von Konkurrenten als Generalsekretär abgelöst werden sollte. Seine Gegner waren im Politbüro in der Mehrzahl, also sollte die Absetzung dort erfolgen. Das ZK, wo Chruschtschow noch eine satte Mehrheit hatte, sollte nicht einberufen werden, angeblich aus Zeitgründen.
Schukow flog auf Chruschtschows Flehen alle ZK-Mitglieder mit Militärmaschinen ein, die dann für Chruschtschow votierten. Der Generalsekretär dankte es ihm nicht. Weil er Schukows Einfluss fürchtete, wurde der wieder in den Ruhestand geschickt, sogar vorsichtshalber aus der Armee ausgeschlossen.

Erst am 30. Jahrestag des Sieges über den Nationalsozialismus wurde Schukow wieder zu den Feierlichkeiten geholt. Anschließend wurde er zu einem Bankett des Schriftstellerverbandes eingeladen und dort mit Stehenden Ovationen gefeiert.

Doch es war mit den Demütigungen noch nicht vorbei. Schukow hatte seine Memoiren geschrieben, die nun vor dem Erscheinen von einem Redaktionsteam bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurden.
Zum Beispiel fügten sie die Legende ein, dass eine Dolmetscherin im Führerbunker ein Gebiss gefunden hätte, das als Hitlers identifiziert worden wäre, oder dass die Partisanen 11000 deutsche Züge vernichtet hätten.

Zum Schluss wollte der neue Regierungschef Leonid Breschnew noch, dass er in Schukows Buch erwähnt wird, obwohl sich beide im Krieg nie begegnet sind. Daneben musste Schukow miterleben, dass viele Generäle sich in ihren Erinnerungen seine Taten zuschrieben. Am heftigsten traf ihn das bei Marschall Konew, der ihm sein Leben zu verdanken hatte. Immerhin hat sich Konew kurz vor Schukows Tod bei ihm entschuldigt. Aber das half nicht mehr viel. Verbittert erlag Schukow seinem dritten Herzinfarkt. So rücksichtslos, wie er mit anderen Menschen umgegangen war, wurde er selbst behandelt. Das einzige wirkliche Denkmal hat Alexander Solschenizyn ihm mit seiner Erzählung gesetzt. Friede seiner Asche.

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