Eine Sekunde

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Dieser chinesische Film hätte aus mehreren Gründen eine große Bühne verdient. Aber er wird nur in kleinen Kinos, meist nachmittags, gezeigt und der Saal ist fast leer. Bei der Vorstellung gestern in den Hackeschen Höfen waren außer mir nur drei Zuschauer anwesend.

Dabei ist über dieses Werk viel geschrieben und spekuliert worden. Er sollte auf der „Berlinale“ 2019 gezeigt werden, wurde aber nur vier Tage vor der Aufführung aus „technischen Gründen“ zurückgezogen. Die französische Jurypräsidentin Juliettte Binoche bedauerte bei der abschließenden Preisverleihung im Namen der gesamten Jury, dass der Film nicht gezeigt werden konnte, vermied aber direkte Kritik an der chinesischen Regierung. Ein im Westen nur zu übliches Vorgehen.

„Zhang war eine wichtige Stimme im internationalen Kino. Wir brauchen Künstler, die uns helfen, die Geschichte zu verstehen […] Wir hoffen, dass dieser Film bald auf der ganzen Welt zu sehen sein wird.“

Inzwischen ist der Film zu sehen und er trägt sehr viel zur Aufklärung über die Geschichte der Mao-Diktatur bei, obwohl er offensichtlich entschärft werden musste. Die Film-Crew kehrte an den Drehort zurück und mehrere Szenen wurden neu gedreht. Andere wurden umgeschnitten. Was übrig blieb, ist eindrucksvoll genug.

Gezeigt wird die Geschichte eines aus der Lagerhaft geflohenen politischen Gefangenen der Kulturrevolution, der sich unter Lebensgefahr durch die Wüste Gobi schlägt, um in einem Oasendorf an einer Filmvorführung teilzunehmen. Sein Interesse gilt aber nicht dem propagandistischen Hauptfilm, sondern der Wochenschau 22, in der seine 14jährige Tochter, die er seit sechs Jahren nicht gesehen hat, zu sehen sein soll.

Schon der Filmbeginn ist grandios:

Es wütet ein furchtbarer Sandsturm. Der Himmel verdüstert sich, der Wind treibt den Flüchtling vor sich her, es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Es sind stürmische Zeiten voller Gewalt. Dieser Sturm sagt mehr, als es Bilder aus dem Lager könnten. Er symbolisiert den einsamen Kampf gegen eine scheinbar unbezwingliche Übermacht. Diese Szene ist existenziell und zeugt von der souveränen ästhetischen Meisterschaft des Regisseurs Zhang Yimou, einem der ganz Großen des chinesischen Films. Im Film erzählen Farbe, Licht und Bildkomposition eine komplexere Geschichte als der vergleichsweise schlichte Plot um eine gestohlene Filmrolle.

Offiziell wurde das Werk als eine Hommage an das Zelluloid-Kino beworben und das ist es auch. Es ist aber eben viel mehr: Ein Blick auf die Verhältnisse im kommunistischen China während der Kulturrevolution. Während im Westen die Linken begeistert Mao-Bibeln lasen und mit Bildern des Diktators gegen das demokratische „Schweinesystem“ demonstrierten, lebten die Chinesen in ärmlichsten Verhältnissen.

Organisiert in durchnummerierten Arbeitseinheiten, die voneinander abgeschottet waren, hungrig, am Rande des Existenzminimums. Selbst die Mitglieder der „Sicherheitsbrigade“, die mit Holzknüppeln bewaffnet den Geflohenen einfangen und ins Lager zurückbringen, hoffen auf eine anständige Mahlzeit als Belohnung.

Bevor er abgeführt wird, hat der Geflohene aber sein Ziel erreicht. Er konnte seine Tochter sehen, die tatsächlich für eine Sekunde in der Wochenschau auftaucht. Nachdem alle Dorfbewohner nach der Vorstellung den Kinosaal verlassen hatten, baut der „Onkel Filmvorführer“, eine Respektsperson im Dorf, der man sofort einen Tisch in der Kantine frei macht, eine Schleife in der die Sekunde Tochter immer wiederholt wird. Dann geht er die Sicherheitsbrigade holen. Für die Auslieferung verlangt er, Filmvorführer bleiben zu dürfen.

Auch die Figur des Kino-Onkels ist komplex angelegt. In einem scheinbar unbewachten Augenblick steckt er dem bereits gefesselten Häftling ein Bild seiner Tochter zu.

Genauso komplex ist auch die Beziehung zwischen dem Geflohenen und dem Waisenmädchen Liu, das die Filmrolle stiehlt, um aus den Filmstreifen einen Lampenschirm zu basteln. Wie die beiden, die sich anfangs bis aufs Messer bekämpfen, Freunde werden, ist eine berührende Geschichte für sich.

Ein anderes Beispiel für die drückende Armut ist der geistig behinderte Sohn des Filmvorführers, der als Kutscher arbeitet, seine Peitsche reparieren musste und dafür den Klebestreifen an der Filmrolle entfernt, mit dem Ergebnis, dass der Film aus der Rolle in den Straßenstaub fällt und abgewickelt wird. Wie aus dem staubigen Gewirr wieder ein vorführbarer Film wird, ist allein wert, das Meisterwerk gesehen zu haben.

Hinzu kommen unvergessliche Bilder von der Wüste Gobi, mit dem schneebedeckten Hochgebirge am Horizont.

Das Filmende ist garantiert von der Zensur so gewollt. Zwei Jahre nach seiner erneuten Inhaftierung kommen die Lagerhäftlinge auf Grund einer neuen Direktive frei. Ausgestattet mit frischen Mao-Uniformen dürfen sie nach Hause gehen. Aber der Ex-Häftling geht nicht zu seiner Familie, die ihn im Lager nie besucht hat, sondern in das Oasendorf. Das Waisenmädchen sieht inzwischen auch nicht mehr abgerissen aus, sondern trägt eine adrette Jacke und Zöpfe, wie das revolutionäre Mädchen im Propagandafilm.

Aber das ist nur eine kleine Sequenz, die dem Meisterwerk keinen Abbruch tut.



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