Wendezeit – Die Neuordnung der Welt nach 1989

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Die Joachim Hertz Stiftung, die sich die Förderung der deutsch-US-amerikanischen Beziehungen zum Zweck gesetzt hat, präsentierte am 24. September im Kleinen Saal der Elbphilharmonie das neueste Buch der Politikwissenschaftlerin Kristina Spohr „Wendezeit“ über die Neuordnung der Welt nach 1989. 

Das fast 1000-seitige Buch liegt seit einem Jahr griffbereit neben meinem Schreibtisch. Es ist anders als viele andere politikwissenschaftliche Bücher gut lesbar und spannend wie ein Krimi. Spohr ist der Frage nachgegangen, was genau sich in dieser turbulenten Zeit, da sich die Welt beinahe über Nacht komplett änderte, abgespielt hat. Sie hat hunderte oder sogar tausende Quellen ausgewertet: Reden, Berichte, Erlasse, Briefe, Tagebücher, Interviews, Statements der damaligen politischen Akteure. Entstanden ist das weitaus beste Buch zu diesem Thema, das ich kenne. 

Spohr kontrastiert im ersten Teil die beiden Umbrüche, die sich im Jahr 1989 ereignet haben: Den in China, wo sich das Land der kapitalistischen Weltwirtschaft öffnete, die kommunistische Partei aber ihre Macht mit einem Blutbad verteidigte und das beinahe friedliche Verschwinden des Kommunismus im Ostblock. Spohrs These, dass in der Zeit zwischen 1989 und 1992, den Scharnierjahren, entscheidende Weichen gestellt wurden, die uns heute noch zu schaffen machen, wird von ihr gut nachvollziehbar belegt. Es handelte sich um einen Umbruch, wie es keinen zuvor gab. Er ging nicht von der Politik, sondern von den Völkern aus. Durch den Druck der Straße wurde in einem weitgehend friedlichen Prozess durch internationale Abkommen, die in einem beispiellosen Geist der Zusammenarbeit ausgehandelt wurden, eine neue Weltordnung entwickelt. 

Aber die Neuordnung der Welt geschah nicht, indem man neue, der Entwicklung angemessene Instrumente erschuf, sondern weiter mit den alten Instrumenten hantierte. Das ist die tiefste Ursache der heutigen Krisen der EU, der NATO und der UNO.

Statt gemeinsame Werte zu entwickeln, wurde der Osten ermuntert, die westlichen Muster „aufzuholen“. Die westlichen Eliten gingen davon aus, dass sich bald die ganze Welt nach den amerikanischen Werten richten würde. Es war sogar vom „Ende der Geschichte“ die Rede. Nichts hatte die Politiker auf so einen Umbruch vorbereitet. Sie hatten sich im Kalten Krieg eingerichtet. Anfang 1989 gab es noch die NATO-Übung Wintex 89, in der ein Szenario geprobt wurde, in dem die NATO auf eine sowjetische Invasion mit Atomschlägen reagierte. Ein Zeichen der anbrechenden neuen Zeit war allenfalls, dass der Mann aus dem Kanzleramt, der im Manöver Bundeskanzler Helmut Kohl spielen musste, sich weigerte, den Befehl zum zweiten atomaren Vergeltungsschlag zu geben. 

Die Politiker, die sich jahrzehntelang mit solchen Szenarien beschäftigten, hatten keinen Gedanken daran verschwendet, Blaupausen für einen friedlichen Ausgang des Kalten Krieges zu entwickeln. Deutschland hatte zwar ein innerdeutsches Ministerium, was aber im Vereinigungsprozess nichts beitragen konnte, weil es sich am Ende nicht mehr mit einer möglichen Wiedervereinigung beschäftigt hatte.

Angesichts der völligen Ahnungslosigkeit der Politiker und des Fehlens jeglicher Vorbereitung und jeglicher Blaupause ist es geradezu ein Wunder, wie gut der Umbruch vollzogen wurde. Selbst als die Sowjetunion auseinanderfiel kam es zu keiner atomaren Katastrophe, sondern zur geordneten Übernahme der atomaren Befehlsgewalt durch den russischen Präsidenten Boris Jelzin. 

Bis zum Schluss hatten sich die westlichen Politiker lieber an den Sowjetführer Michail Gorbatschow geklammert, als sich mit den tiefgreifenden politischen und strukturellen Problemen der zusammenbrechenden Sowjetunion zu befassen. Sie klammerten sich einerseits an Gorbatschow, waren aber andererseits unfähig, seine Anregungen für die Neuordnung Europas („Unser gemeinsames Haus“) aufzunehmen. 

Sie griffen lieber zu den konservativen Maßnahmen, indem sie von den bereits bestehenden westlichen Strukturen und Institutionen Gebrauch machten, statt neue zu schaffen, die auf die Herausforderungen der neuen Ära zugeschnitten gewesen wären. Zwar bemühten sich einige wenige Politiker, insbesondere Genscher, Gorbatschow und Mitterand von 1989 bis 1991 um eine neue paneuropäische Architektur, die beide Hälften des Kontinents umfasste und die Russland in eine gemeinsame Sicherheitsstruktur eingebunden hätte. Das kam aber nicht zustande. Stattdessen wurde ein immer noch mächtiger und statusbewusster russischer Rumpfstaat sich selbst überlassen und an die Peripherie Europas abgedrängt. Mit den Folgen haben wir heute zu kämpfen.

Roman Herzog, der Alt-Bundespräsident bezeichnete 1995 die Ära nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als die „Zeit, die noch keinen Namen hat“. Fünfundzwanzig Jahre später hat sie immer noch keinen, da die besonderen Kennzeichen dieser Epoche immer noch schwer zu verstehen sind. 

Zum Teil liegt es daran, dass sich zu viele Legenden um diesen Abschnitt der Geschichte ranken. Einige Legenden sollen klar dazu dienen, von der Rolle der Bevölkerung beim Umbruch abzulenken. Jetzt, am Vorabend des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, wird verstärkt die Legende in die Welt gesetzt, die Vereinigung wäre kein Wille des überwiegenden Teil der DDR-Bevölkerung gewesen, sondern wäre auf Befehl Moskaus erfolgt. 

Eine Schlüsselrolle wird dabei dem Mitglied des ZK der KPdSU Nikolai Portugalow zugewiesen, der angeblich der Mastermind hinter dem Sowjetischen Vereinigungsplan gewesen sein soll. Tatsächlich hat Protugalow am 21.November 1989 um ein dringendes Gespräch mit Kanzlerberater Horst Teltschik gebeten. Während dieses Gesprächs übergab Portugalow Teltschik eine mehrere handgeschriebene Seiten umfassende Botschaft an Helmut Kohl. Es handelte sich um sowjetische Überlegungen zur Wiedervereinigung, unterteilt in eine „amtlichen“ und einen „weiterführenden“ Teil.

Im amtlichen Teil wurden hauptsächlich die Zusagen bestätigt, die Gorbatschow bereits in Bezug auf Nichteinmischung in DDR-Angelegenheiten gegeben hatte. Man könne Modrows Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft ins Auge fassen. Sonst werde sich die DDR in ihrer Existenz bedroht fühlen. Eine gesamteuropäische Friedensordnung sei eine unabdingbare Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage. Das Dokument lässt den Schluss zu, dass eine deutsch-deutsche Annäherung in Form einer Konförderation im Politbüro diskutiert und akzeptiert worden war. Ein sowjetischer Befehl zur deutschen Vereinigung lässt sich daraus nicht ableiten. Tatsächlich hatte der sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am 17. November die unilaterale Veränderung des Staus Quo abgelehnt, aber friedlichen Veränderungen im „gesamteuropäischen Konsens“ zugestimmt. 

Bei Bundeskanzler Kohl hatte das Papier die Wirkung, dass ihm erstmals die Idee eines stufenweisen Vorgehens kam. Endlich begann eine politische Gesamtstrategie zu keimen. Die hat sich dann als äußerst erfolgreich erwiesen.

Die Welt hat nach dem Mauerfall eine große Wegstrecke zurückgelegt. Ein Ende der Geschichte hat es nicht gegeben, sondern eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Sie ist keineswegs sicherer geworden, sondern störanfälliger, weil komplexer.

Einer der damaligen Akteure, George H.W. Bush, der seine Präsidentschaft an eine neue Politikergeneration um Bill Clinton verloren hat, erwies sich in seiner Abschiedsrede als erstaunlich vorausschauend. Er warnte, dass „eine Welt der zunehmenden Instabilität und des feindseligen Nationalismus die globalen Märkte stören, Handelskriege auslösen und uns auf den Weg des wirtschaftlichen Niedergangs führen wird…Die neue Welt könnte mit der Zeit genauso bedrohlich werden, wie die alte.

Kristina Spohr: Wendezeit 



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