Sonntagslektüre: Wie wir durch die Veränderung unserer Umgebung manipuliert werden

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Ich kann an keiner Bücherkiste vorbeigehen, auch nicht bei OBI. Obwohl ich weiß, dass außer den zur Plage gewordenen Krimis und Historienromanen kaum Brauchbares zu finden ist, muss ich nachsehen, ob sich nicht doch ein lohnenswerter Titel findet. Diesmal zog ich „Psychogeografie – Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidung beeinflusst“ von Colin Ellard aus dem Stapel. Weder hatte ich bisher vom Autor, noch von Psychogeografie etwas gehört. Aber der Titel machte mich neugierig. Im Teaser wurde versprochen, dass ich erfahre, warum in einem Café die Tische am Rand schneller besetzt werden, als die in der Mitte, warum auch große Plätze ehr am Rand bevölkert werden und Kranke schneller genesen, wenn sie ins Grüne blicken. Aber das Buch enthält sehr viel mehr. Eine Warnung vor dem heraufziehenden neuen Totalitarismus.

Colin Ellard ist ein im angelsächsischen Raum sehr bekannter Neurowissenschaftler und Experimentalpsychologe, der als einer der besten Wissenschaftsautoren gilt. Ellard ist ein Fan von neuen Technologien, sieht aber die Gefahren, die sie mit sich bringen können. Was er herausgefunden hat, sollte jeder wissen, der sich in unserer hochtechnologisierten Welt bewegen muss.

Unsere frühen Erfahrungen und die Orte, an denen wir sie gemacht haben, prägen uns. Als Erwachsene richten wir uns entsprechend dieser Prägung in unsere Umgebung und unserem Zuhause ein. Das Wissen, dass Gebäude und Räume Einfluss haben auf alles, was in ihnen und um sie herum stattfindet, ist uralt. Architektur war immer ein Machtinstrument. Sie diente der Machtentfaltung durch Repräsentation oder der Einschüchterung (Gerichtsgebäude, Gefängnisse, Kasernen). Gebäude haben offenbar Sinne und reagieren auf Ereignisse. Jeder, der einmal aus einer Wohnung, in der er längere Zeit gelebt hat, auszog, hat erlebt, wie fremd die vertrauten vier Wände werden, wenn das Heim geräumt ist. Wohnungen von Verstorbenen wirken seelenlos, sobald ihr Bewohner die Erde verlassen hat. Inzwischen werden Technologien entwickelt, die auf die Bedürfnisse der Bewohner von Häusern reagieren. Der automatische Temperaturregler an der Heizung ist nur ein Beispiel. Inzwischen sind ganze responsive Hüllen für Gebäude entwickelt worden, die auf alle möglichen Einflüsse durch Wetterveränderung reagieren. Auch für die Wohnung gibt es Technologien, die ihre Bewohner darauf aufmerksam machen, dass der Kühlschrank nicht mehr gefüllt ist, das Toilettenpapier fehlt, Shampoo besorgt werden muss. Das klingt verlockend, aber wie der ständige Gebrauch von GPS-Signalen unseren angeborenen Orientierungssinn zerstört, uns starke Suchmaschinen das Gedächtnis beeinträchtigen, kann uns ein Haus, das uns von allen realen Gefährdungen des Lebens abschottet, abstumpfen lassen gegen andere wichtige Bereiche des Lebens.

Jede neue Technologie bewirkt einen Bruch zwischen dem Sein und der Realität. Wir freuen uns über die technischen Neuheiten und meinen mit ihnen neue Freiheiten zu gewinnen, sehen aber unter Umständen nicht, was wir dafür aufgeben.

Walter Benjamin hat bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ darauf hingewiesen, dass akkurate und massenhafte Reproduktionen von Kunstwerken neue Wege des Denkens erfordern, was „Echtheit“ noch bedeutet.

Wenn man alle Gefühle simulieren kann, was wird aus den echten Gefühlen? Können Designerkunst und technologische Spitzfindigkeiten das Gefühl echter Liebe und Behagens ersetzen, das wir für unsere Mitmenschen und unser Zuhause empfinden? Es mehren sich Bilder von Paaren, die sich am Restauranttisch gegenüber sitzen, sich aber nicht anschauen, sondern auf ihr Handy starren, als könnten sie nicht mehr miteinander sprechen, sondern nur noch per SMS kommunizieren.

Was wir als behaglich und sicher empfinden ist durch Jahrtausende geprägt. Wir fühlen uns am wohlsten, wenn wir alles im Blick haben, selbst aber nicht exponiert werden. Das ist die Überlebensformel der Jäger und Sammler gewesen, die sich stets vor Raubtieren und Invasoren schützen mussten. Historisch war der Mensch immer auf der Flucht vor diversen Gefahren. Wie überwindet man den Drang nach ständigem Ortswechsel? Indem man interessante Räume schafft, die Information und Abwechslung bieten. Das waren die Marktplätze, das soziale Kapital jeder Siedlung. Ein bedeutender Bruch in dieser Tradition war die Erfindung von Kaufhäusern, die darauf ausgerichtet sind, dass die Kunden so lange wie möglich drin bleiben. Waren die alten Kaufhäuser noch Prachtbauten mit großartigen Fassaden, sehen die Einkaufszentren von heute von außen öde und langweilig aus. Ist man aber drin, befindet man sich in einer eigenen, vollkommen abgeschotteten Umwelt wieder mit eigenem Klima und einer eigenen Topografie. Unzählige Spiegel und reflektierende Flächen laden zum langsamer gehen ein, gewundene Wege fördern die „gewollte Desorientierng“. Die allermeisten Kunden kaufen am Ende viel mehr, als das, was auf ihrer Besorgungsliste steht. Geschätzte 40 bis 70 Prozent der Erwerbungen in diesen Malls sind Spontankäufe. Aber heute gibt es längst andere Möglichkeiten. Wissenschaftler haben herausgefunden, das Gesichtsausdrücke über Kulturen hinweg universell sind. Unsere Gefühle bewegen dieselben Gesichtsmuskeln. Heute gibt es Technologien, die Schlangen an Supermarktkassen scannen, sehen, was die Kunden gekauft haben und ihnen an Ort und Stelle entsprechende Sonderangebote präsentieren.

„Insgesamt Bringen solche Technologien, die das derzeitige Kaufverhalten von Käufern ausspähen und deren Befindlichkeit auslesen, einen Wandel in unserem Verhältnis mit der gebauten Umwelt mit sich, der symptomatisch ist für sehr viel größere Veränderungen… Im Gefolge dieser Veränderung sehen wir in vielen Teilen der Welt einen starken Rückgang beim Bau von Einkaufszentren und Kaufhäusern.“ Der Online-Handel übernimmt. Ein Prozess, der durch die derzeitige Corona-Krise strak beschleunigt wird. Der öffentliche Raum ist nicht mehr nur zur Ware geworden, er wird reduziert. Damit wird die menschliche Begegnung eingeschränkt.

Das heißt, unsere Umwelt ist nicht mehr das, was sie früher war. Sie verlagert sich ins Virtuelle.

Dieser Trend der Vermischung realer und virtueller Räume hat ideologische Wurzeln. Hier zeichnet sich der neue Totalitarismus ab.

„Die Trends zur verkabelten Stadt und zur allgegenwärtigen Vernetzung werden als Beginn einer neuartigen Verbindung von Informationstechnologien und Architektur gepriesen, doch die Entwicklung ist schon seit geraumer Zeit im Gange. Genau wie die elektronische Verbundenheit die Globalisierung ermöglicht und die Bedeutung des physischen Raums und der physischen Dimensionen in vielen unserer alltäglichen Handlungen tendenziell hinfällig wird, macht die Homogenisierung der Architekturplanung die Bauerei in Backsteinen, Stahl und Beton obsolet. Rem Kohlhaas und Bruce Mau rühmen und befürworten in ihrem Buch S,M,L,XL die „empty box designs“ für die von ihnen sogenannte „generic city“. Die Autoren meinen, das jede Ornamentik, sei es ein besonders Fassadendesign, ein spezifischer Straßenverlauf oder eine bestimmte kulturelle Ikonografie, per definitionem in gewissem Sinne etwas Ausschließendes habe. In einer Welt, in der wir uns als Gruppen wiederfänden, deren Zusammensetzung über die alten kulturellen Grenzen hinausgehe, verprelle jeder Entwurf, der historische Assoziationen enthalte, unweigerlich die Menschen, deren Historie sich nicht darin spiegele.“

Die Autoren meinen, es sie einfacher für diese Bevölkerungsgruppen durch Dubai oder Singapur zu laufen, als durch schöne mittelalterliche Stadtkerne, die für diese Menschen angeblich nichts als Zurückweisung und Ausschluss ausstrahlen. In einem Zeitalter der massenhaften Immigration müsse es zu einer massenhaften Ähnlichkeit der Städte kommen. Diese Städte funktionierten wie Flughäfen: die immer gleichen Geschäfte an den immer gleichen Stellen.

Die Gedankenspiele, die ganze Welt in einen öden globalen Flughafen zu verwandeln sind bereits unter uns. Wir müssen uns fragen, ob wir in einem solchen Flughafen leben wollen.

Wie gut, dass es die Collin Ellards gibt, die uns auf diese Gefahr aufmerksam machen.

Collin Ellard: Psychogeografie

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