Widerstand gegen die tägliche Gehirnwäsche

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Mein Leser W. W.-P. hat sich vor Wochen mit seiner Kritik an ihrem “Migrations-Dossier” an die Bundeszentrale für Politische Bildung gewandt. Auf Antwort wartet er bislang vergebens. Er wird nicht einmal einer Eingangsbestätigung für wert befunden. Deshalb dokumentiere ich hier seien Anmerkungen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe Ihr Dossier zur Migration gelesen und halte es für dringend revisionsbedürftig.

Sie beginnen mit folgenden Sätzen:
„Migration prägt seit jeher unsere Gesellschaften. Sie findet schon immer und ständig statt, ist also gewissermaßen Normalität. Gleichwohl wird Migration häufig erst bei Problemen sichtbar oder wird angesichts von Konflikten thematisiert und diskutiert.“ http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/
Dieser „Aufmacher“ soll den Leser auf den Tenor der folgenden Texte einstimmen. Die Schlüsselbegriffe sind dabei „Migration“ und „Normalität“: Migration wird vorab mit dem Attribut der Normalität versehen. Sie nehmen damit die Perspektive von J. Oltmer ein, den Sie im Kapitel „Globale Migration: Geschichte, Gegenwart, Zukunft“ auch selbst zu Worte kommen lassen. Damit scheinen Ihnen die einleitenden Sätze wissenschaftlich hinreichend legitimiert zu sein.
Damit ist aber keineswegs alles Notwendige gesagt. Dass Sie das Thema „Migration“ erneut und ausführlich aufgreifen, entspringt dem aktuellen Bedürfnis in Deutschland, die seit 2015 in unserem Land entstandene Lage reflektierend und affektiv zu bewältigen. Die von Ihnen angesprochenen Adressaten sind also nicht distanzierte Fachwissenschaftler, sondern besorgte politisch interessierte, nach Orientierung suchende Bürger. Insofern erhält der distanzierte wissenschaftliche Befund ein unterschwelliges politisches Programm: Die Ergebnisse der Regierungspolitik seit 2015, die die Gesellschaft aufwühlen und in unterschiedliche Lager spalten, sollen als „Normalität“ relativiert werden und so der z. T. emotionalen Kritik am Regierungshandeln ein Teil ihrer Berechtigung entzogen werden. Dieses Vorgehen entspricht in etwa der Situation, wie wenn ein Vertreter der Zuckerindustrie sein Referat vor Beinamputierten mit dem Satz eröffnen würde: „Diabetes hat es immer gegeben.“ Oder analog vor den Angehörigen der Opfer von Amokläufen: „Gewalt hat es immer gegeben.“

Offenkundig wird in diesen drei Fällen gezielt an einem akuten Problem vorbei geredet. Statt der Perspektive J. Oltmers, der auch in seinen Büchern die Migration sub specie aeteritatis betrachtet, wäre als Einstieg die von P. Collier angebracht gewesen (Exodus, von der BPB selbst veröffentlicht!), doch dieser Autor wird von Ihnen hier nicht erwähnt. J. Oltmers Beitrag ist zwar mit dem Foto eines Plakats zum kanadischen Einwanderungsgesetz versehen, doch die kanadische Regelung, auf die u. a. die AfD Bezug genommen hat, wird von Ihnen nicht diskutiert. Honni soit qui mal y pense … Bei Wikipedia findet man immerhin den Hinweis, dass das kanadische Modell bei uns vor ca. 10 Jahren – fruchtlos – diskutiert worden ist.
An demselben Fundort wird erwähnt, dass die sog. Willkommenskultur sich ursprünglich auf den Fachkräftemangel bezogen hat. Wie diese Willkommenskultur inzwischen zum moralischen Imperativ der interkulturellen Öffnung mutiert ist, hätte der geneigte Leser gern analysiert gesehen. Nicht allein Wissenschaftler (z.B. im Sammelband hg. v. W. Brömmel / Helmut König / Manfred Sicking: Europa, wie weiter? Bielefeld: Transkript, 2015), sondern auch aufmerksame politische Beobachter haben den Schulterschluss zwischen Merkel („sich abschottende Gesellschaft“ bzw. „Abschottung“) und Habermas („sich verkapselnde Kulturen“, in Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. 93) beobachten können, mit dem die Kritiker der nachkapitalistischen Governance desavouiert werden sollen. Ohne diese Hintergründe aufzuklären und zu diskutieren, erschleichen Sie das Ergebnis: Je offener eine Gesellschaft migrationsbedingter Diversität gegenübertrete, umso eher könne Integration gelingen. Zwar erwähnen Sie, dass, worin Integration besteht, immer neu ausgehandelt werden müsse; weiter als die nun mal notwendige Integration reicht der Blick aber nicht.

Hier schließt sich der Kreis: Ohne die Erörterung des kanadischen Modells und von P. Colliers Ergebnissen, die beide konkrete Bedingungen (Stichwort: Passung des „Sozialmodells“) für die geregelte Zuwanderung incl. eventueller Sanktionen nennen, verschwinden die in Deutschland zu verzeichnenden höchst diskutablen Entscheidungen und (Un-)Verantwortlichkeiten seit 2015 „gewissermaßen“ in einer globalen „Normalität“. Die eingangs erwähnten konkreten Probleme und Konflikte, an denen sich die Migrationsproblematik kristallisiere, werden gerade nicht analysiert.
Aufgrund dieser methodischen Fehler widerspreche ich nachdrücklich Ihrer Behauptung, Migration lasse sich nicht steuern.

Mein Urteil: Das Dossier sollte von unabhängigen Wissenschaftlern erheblich nachbessert werden.

Mit freundlichen Grüßen



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