Der Verbotswahn geht in die nächste Runde
Von Gastautorin Annette Heinisch
Die Achtung der Menschenrechte ist ebenso wie der Rechtsstaat die Grundlage unseres Staates. Das sind „wir“, es ist das, was uns ausmacht, was „den Westen“ von anderen Staaten abhebt. Menschenrechte sind nicht disponibel, dürfen gerade nicht in einem Kuhhandel geopfert werden. Den politischen Kuhhändlern ist jedoch das Gespür für Werte abhandengekommen, besonders für Freiheit. Das ist das Ergebnis, wenn man seit Jahren von allem nur den Preis, aber nicht mehr den Wert kennt.
Als Anwalt erlebt man Einiges, manches ist wirklich lustig. Tatsächlich schreibt das wirkliche Leben oft absurdere Geschichten als es sich Roman – oder Drehbuchautoren jemals trauen würden. Wenn man mich also fragt, was man als Jurist „im wahren Leben“ am dringendsten braucht, wäre meine Antwort: Humor. Manchmal vergeht er einem allerdings.
In einem Prozess klagen Kläger und Beklagte bestreiten. Der Kläger K möchte also etwas vom Beklagten B, was der ihm freiwillig nicht geben will. Um das zu bekommen, muss K (oder sein Anwalt) substantiiert vortragen, seine Tatsachenbehauptungen unter Beweis stellen, wobei dieser Vortrag dann einen Rechtsanspruch begründen muss. Was heißt „substantiiert vortragen“? Parteien müssen den Sachverhalt vollständig und umfassend darstellen, haltlose Vorwürfe oder in sich unschlüssige, nicht plausible Behauptungen reichen nicht.
Anders ist es bei der Politik. Hier kann jeder allen möglichen Schwachsinn von sich geben – oft beklatscht und nachgeplappert – der nicht einmal in sich konsistent oder plausibel ist.
Nun kommt B und bestreitet alles. Es habe sich entweder gar nicht oder ganz anders zugetragen. Wenn er den Vortrag des K erheblich bestreitet, dann folgt eine Beweisaufnahme. Erheblich ist das Bestreiten nur, wenn er nicht irgendetwas blubbert, sondern konkret, nachvollziehbar und begründet dem Vorbringen von K widerspricht. Beispiel: K sagt, B habe ihn mit seinem blauen Auto am Karfreitag gerammt, nun will er den Schaden ersetzt haben. K hat Zeugen und eine Reparaturrechnung. B sagt, er habe kein blaues Auto und sei am Karfreitag auf Teneriffa gewesen. Er legt sein Flugticket vor. Außerdem sei der Schaden viel geringer und könne von seinem Auto gar nicht verursacht worden sein, was ein Sachverständiger bestätigen könne. Dann müsste es zur Beweisaufnahme kommen. An diesem Punkt wird es schwierig.
Zum einen könnte man das gesamte, in seinen Prinzipien Jahrtausende alte Rechtssystem in die Tonne kloppen, wenn man der derzeit herrschen Lehre folgte und die Wirklichkeit als rein soziales Konstrukt ansähe. Jede Wissenschaft (und so auch die Rechtswissenschaft) beruht auf der Erkenntnis, dass es eine Wahrheit gibt, die man herausfinden kann. Dass ein Gegenstand immer zu Boden fällt und nie in die Luft, ist die Wahrheit. Es ist kein soziales Konstrukt. Diese Erkenntnis war die Grundlage für die Frage, warum dies so ist, welche Gesetzmäßigkeit dahintersteckt. Dieser Wissensdurst, der auf dem Willen zur Erkenntnis der Wahrheit beruht, ist Wissenschaft. Er ist ein wesentlicher Aspekt westlichen Denkens und die Grundlage allen Fortschritts. Dass Wechselwirkungen mit dem Umfeld bestehen, ist Teil dieser Erkenntnis. Dass aber alles nur ein gedankliches Konstrukt ist, es eine objektive Wahrheit nicht gibt, sondern diese nur subjektiv ist, entzieht jeder Wissenschaft die Grundlage. Dann ist auch nichts mehr einem Beweis zugänglich.
Zum anderen wird ein Prozess an diesem Punkt aufwendig und teuer. Ersteres stört das Gericht, letzteres die Prozesspartei, die verliert und zahlen muss.
Früher, als Landgerichte noch in Kammerbesetzung (drei Richter) verhandelten und entschieden, hat es die Parteien auf die Unwägbarkeiten von Beweisaufnahmen hingewiesen und gefragt, ob ein Vergleich möglich wäre. Das änderte sich mit der Zeit. Kammern gibt es immer noch, aber meist wird die Sache auf den Einzelrichter übertragen, der wie ein Amtsrichter allein entscheidet. Das „Sechs – Augen – Prinzip“ ist de facto aufgehoben. Dann wurde zwingend vorgeschrieben, dass Vergleichsverhandlungen geführt werden, die Parteien müssen daher verpflichtend selbst bei Gericht erscheinen, was übrigens einen Vergleichsabschluss keineswegs erleichtert. Das kann man aber noch steigern, indem man eine Mediation einführt (nicht zu verwechseln mit Meditation). Da sitzen dann alle nett an einem Tisch, vor Corona gab es Kaffee und Kekse, und man plaudert einmal nett. Alle sollen sich liebhaben. „Der Preis und der Wert“ weiterlesen